Erinnerungen sind kostbar – und manchmal süß wie Marmelade

Ein Sonntag in diesem Sommer wird mir in besonderer Erinnerung bleiben, weil ich ihn trotz des strahlenden Sonnenscheins in ziemlich nachdenklicher Stimmung verbracht habe. Ein tragischer Unfall hatte einen der besten Freunde meines Mannes urplötzlich aus dem Leben gerissen und mir wieder einmal vor Augen geführt, wie fragil die Konstruktion unseres Lebens doch ist. Wenn ein geliebter Mensch mit einem Mal nicht mehr bei uns ist, wird jede noch so kleine Erinnerung unendlich kostbar; all diese Kleinigkeiten, die uns im Alltag fast bedeutungslos erscheinen. Zum Beispiel ein bestimmter Geruch, der Klang eines Lachens oder eines dieser unzähligen gemeinsamen Rituale, die man als Paar im Laufe der Jahre entwickelt hat und die sich alleine nun seltsam anfühlen, irgendwie unvollständig.

An besagtem Sonntagnachmittag war auch ich von vielen persönlichen Erinnerungen umgeben. Während ich knapp zwölf Kilo Süßkirschen aussortiert, gewaschen, entkernt, zu Marmelade und Kompott verarbeitet und eingefroren habe, tauchte eine ganze Flut von Erinnerungen vor meinem inneren Auge auf und ich fühlte mich in die Wohnküche meiner Eltern zurückversetzt, die sich regelmäßig in eine kleine Lebensmittelfabrik verwandelte.

Dazu muss man wissen, dass meine Eltern in dritter Generation passionierte Kleingärtner waren. Dank des grünen Daumens meiner Mutter war unser Garten nicht nur ein blühender Märchenwald, sondern dort wuchs nahezu alles, was man sich an Obst und Gemüse nur vorstellen konnte. Vom späten Frühjahr bis zum Herbst war bei „Hubers im Gadde“ quasi Erntezeit und so wurde zu Hause geschnippelt, geraspelt, Marmelade gekocht, eingerext, eingefroren, Säfte gepresst und gebacken. Meine Mutter und meine Oma standen wie zwei Feldwebel in der Küche und erteilten einem mauligen Teenager (mir) Anweisungen. Nicht selten wurden meine Freundinnen gleich miteingespannt, wenn sie im falschen Moment zu Besuch kamen. Mit unseren karierten Schürzen hatten wir eine fatale Ähnlichkeit mit Dobby, dem Hauself!

Gerade als Teenager fand ich diese ganzen Hilfsarbeiten, die mir zugeteilt wurden, oftmals nervig und uncool, andererseits vermittelte dieses vertraute Miteinander eine unglaubliche Geborgenheit. Ich höre noch heute das Lachen meiner Mutter, wenn sie einen Finger in den mit Geranien bepflanzten Balkonkasten vor dem Küchenfenster hielt und eine dicke Hummel mit frisch gekochter Marmelade fütterte oder die Stimme meiner Oma, die im breiten Frankfurter Platt die Marmeladenrezepte vergangener Generationen herunterbetete, während ich mit langem Gesicht am Esstisch saß und Kirschen entkernte.

Ich habe aber auch noch die gespannten Gesichter meiner Freundinnen vor Augen, die – bestens versorgt mit Kuchen und Limonade – zum wiederholten Male zu meiner Mutter sagten: „Frau Huber, erzählen Sie doch noch ein bisschen von früher.“ Die Geschichten, die meine Mutter und meine Oma dann zum besten gaben, könnte ich auch heute noch in allen Details erzählen; nur die peinlichen Anekdoten, die mich betreffen und die nur die eigenen Eltern niedlich finden können, würde ich definitiv aussparen.

Auch an das Gebrummel meines Vaters erinnere ich mich, der abends die ganzen Gläser und Gefrierbeutel in den Keller tragen und nach dem strengen System meiner Mutter in die deckenhohen Vorratsregale und riesigen Gefriertruhen einsortieren musste. Überhaupt – dieser Keller… wie oft wurde ich nach unten geschickt, um Marmelade oder Gemüse zu holen. Ich kam mir jedes Mal vor wie im Schlaraffenland und habe fasziniert die rot-weiß-gemusterten Etiketten studiert, auf denen meine Mutter penibel Inhalt und Datum vermerkte. Das Einzige, was ich immer unauffällig ganz nach hinten in die Regale geräumt habe, waren die Einmachgläser mit Roter Beete oder eingelegtem Kürbis. Ganz ehrlich – davor graust es mich heute noch!

Ich erinnere mich auch an die traumhaft schönen Blumensträuße, die mir meine Mutter am Ende eines jeden Besuches zusammengestellt hat und die jedes Mal eine gewisse Anzahl Spinnen, Käfer oder Tausendfüßler beherbergten, die dann völlig verwirrt in unserem Haus auf Entdeckungsreise gingen.

All das geht mir durch den Kopf, während die ersten fünf Kilo Süßkirschen mit frischen Limetten in einem Topf köcheln. Die Marmelade ist eigentlich eine Bad Vilbeler / Oberräder Gemeinschaftsproduktion, denn sowohl der Kirschenentkerner als auch die Limetten stammen aus Oberrad. Eigentlich kein Wunder, denn irgendwo im Umfeld der Oberräder Gärtnereien findet man mich ja nun auch recht häufig. JAuch hier schließt sich für mich ein Kreis und dieses – wenn auch nur im kleinen Stil – vertraute Terrain ist einer der Gründe, warum ich mich dort wie zu Hause fühle.

Es blubbert heftig im Topf und die Marmelade ist fast fertig. Auch wenn ich mir natürlich die Zunge verbrenne, muss ich gleich probieren… Sie schmeckt nach Sommer, nach vielen liebgewonnen Erinnerungen und ein bisschen nach „Zuhause“.

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