Pokémania – oder der Grusel der virtuellen Welt
Ich gehöre eindeutig zu den Menschen, die auch an Dinge glauben können, die man nicht sieht oder die nicht wissenschaftlich zu belegen sind. Ich glaube an Gott und bin überzeugt, im alltäglichen Nahkampf mit meinen drei Kindern sogar gelegentlich einen Hauch von mitfühlendem, göttlichen Beistand zu spüren. Ich glaube daran, dass es irgendwo auf der Welt Einhörner, Feen und Elfen gibt – warum sonst sollte ein Land wie Island bestimmte Plätze aus genau diesem Grund schützen? Ich glaube sogar daran, dass bei meinen Kindern eine Weiterentwicklung nach der Pubertät möglich ist, auch wenn diese noch nicht klar zu erkennen ist.
Was sich aber derzeit in meinem erweiterten Umfeld tut und erschreckenderweise auch in meinem eigenen, familiären Alltag zu beobachten ist, stellt meine Vorstellungskraft arg auf die Probe. Die Rede ist von kleinen, bunten Monstern, auf die mittels einer App Jagd gemacht werden kann. Richtig – die allseits bekannten Pokémons! Das ist soweit noch keine große Sache… Apps und Spiele dieser Art gibt es massig und egal, ob man bunte, kleine Monster jagt, mit dicken Vögeln auf hysterisch lachende Affen schießt oder seine eigene Tierklinik betreut – all das hat schon einen gewissen Unterhaltungswert. Daher war ich nur mäßig interessiert, als sich meine Kinder diese App heruntergeladen haben – bis meine kleine Tochter plötzlich mit einem Aufschrei und weit aufgerissenen Augen zielstrebig in meine Himbeeren hineinrannte. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, starrte auf ihren Ipod und rief triumphierend: „Ich hab’ ihn!“
Auf meine irritierte Frage, wen oder was sie genau hätte, bekam ich nur als Antwort: „Da saß ein Pokémon.“ Nicht wahrnehmbar für mein Auge, genauso wenig wie das Wesen, das in der Zitronenmelisse versteckt war oder angeblich mitten auf unserem Esstisch saß! Figuren zu fangen, die nur auf einem Display sichtbar und für Normalsterbliche nicht wahrnehmbar sind, bevölkern plötzlich sogar das Eigenheim – das macht mich zugegebenermaßen etwas nervös.
Die neue Generation der Ghostbusters
Wie weit diese Pokémania jedoch bereits um sich gegriffen hat, wurde mir erst in den letzten Tagen klar. Im Auto bekam ich einen langen Vortrag von meiner ältesten Tochter, wo sich denn diese pummeligen, japanischen Kampfzwerge angeblich überall verstecken und welch unterschiedliche Eigenschaften sie besitzen. Angeblich wurden sie sogar schon im örtlichen Springbrunnen, auf der Leiter eines Feuerwehrautos und auf dem Dach von Einkaufszentren gesichtet. Ich nickte ergeben, aber mich beschlich der leise Verdacht, dass ich hier für blöd verkauft werden sollte. Dachte ich! Bis ich gestern eine Vollbremsung hinlegen musste, weil ein Teenager – den starrem Blick konzentriert auf sein Smartphone gerichtet – in gestrecktem Galopp schnurstracks quer über die Straße rannte und mit einem Satz in den hübsch bepflanzten Springbrunnen in der Mitte eines Kreisels sprang. Tropfnass, das Smartphone in einer Schutzhülle, strahlte er seine Kumpel am Straßenrand an. „Ich hab’ ihn!“ Wo hatte ich das nur schon mal gehört? Ach richtig, in meinen Himbeeren!
Damit jedoch nicht genug. Während ich gemütlich in der ländlichen Idylle zwischen Mais- und Getreidefeldern meine Laufrunde drehte und mich von der Musik aus meinen Kopfhörern berieseln ließ, brach ein Klassenkamerad meiner Tochter rechts durch das Maisfeld neben mir. Mit wirrem Blick sah er sich um und brüllte: „Ich hab’ ihn verloren.“ Weiter vorne stolperten zwei Freunde aus dem meterhohen Gewächs und ruderten heftig mit den Armen. „Du musst hierher kommen, er ist hier drüben.“
Als ich mit offenem Mund vor dem Maisfeld zu erkennen versuchte, was sich genau darin versteckte, holte mich meine Tochter schnaufend und mit hochrotem Kopf ein. Erfreut stellte ich die Frage, was sie dazu veranlasst hätte, tatsächlich mehr als zehn Schritte zu Fuß zurückzulegen und bekam ich die atemlose Antwort, sie müsse noch ein Pokémon-Ei ausbrüten und hätte dafür noch knappe zwei Kilometer zu laufen.
Meine dunklen Erinnerungen an den Biologie-Unterricht waren, dass die meisten eierlegenden Lebewesen ihr Gelege im Sitzen ausbrüten oder vergraben oder unter Wasser an Steinen oder Pflanzen andocken – an einen joggenden Brüter konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Eine Ansammlung freigelassener Tamagotchis?
Der Hype, der mit diesem Spiel einhergeht, erinnert mich den Tamagotchi-Trend, der Mitte der 90er Jahre die Welt bewegte – auch wenn die Pokémons optisch mehr hermachen. Falls Sie zu der Generation gehören, an der dies seltsamerweise unbemerkt vorüber gegangen ist: das Tamagotchi war eine Art virtuelles Küken, das nach dem Schlüpfen von seinen „Eltern“ fast wie ein eigenes Haustier gehegt und gepflegt werden musste. Erschreckenderweise entwickelte dieses Küken in manchen Versionen auch eine eigene Persönlichkeit und war auf einmal gar nicht mehr so berechenbar, wie man es von einem programmierbaren Haustier erwartet hätte. Diese niedlichen, in ihrer kleinen Elektronikbox gefangenen Küken verlangten zu ganz unterschiedlichen Tags- und Nachtzeiten nach Futter, Wasser, Zuwendung oder Körperpflege und starben bei entsprechender Vernachlässigung eines grausamen Todes. Da diese Folge zwar von der Natur vorgesehen, für viele Kinder und Jugendliche aber psychisch kaum auszuhalten war, konnten die japanischen Calimeros per Knopfdruck wiederbelebt werden. Ich muss nicht näher ausführen, was mein damals 5jähriges Patenkind nach dem Tod seines Meerschweinchens gesucht hat, oder?
Tatsächlich mehr Lust auf Bewegung?
Es mag sein, dass sich der tiefere Sinn von Pokémon Go! erfüllt und sich die Jugendlichen tatsächlich mehr bewegen, der Stoffwechsel mobilisiert wird und gerade die etwas übergewichtigen Kinder mehr Freude an der Bewegung finden – allerdings habe ich noch kein einziges, übergewichtiges Kind jagend an mir vorbeiflitzen sehen. Die werden nämlich von ihren genervten Eltern eher im Schritttempo mit dem Auto durch die Gegend kutschiert, bis die sich am Ende völlig verwirrt von der Brüllerei auf dem Beifahrersitz mitten in eine Pokémon-Arena verirren, in der – ähnlich wie früher bei den Gladiatorenkämpfen im Römischen Reich – ganze Teams gegeneinander antreten. Nur so als Tipp: das kann ihnen als ahnungsloser Jogger auch mitten im Wald passieren!
Mir drängt sich die Frage auf, warum es heutzutage nicht mehr ausreicht, ganz klassisch einer Beschäftigung nachzugehen (z.B. Joggen) und sich darauf zu konzentrieren, sondern diese nur in Begleitung eines virtuellen Anreizes als sinnvoll empfunden wird – in diesem Fall Monster jagen oder Eier ausbrüten. Soll der Nachwuchs damit schon früh seine Fähigkeit in Sachen Multitasking unter Beweis stellen oder ist es für bewegungsmuffelige Teenager tatsächlich weniger schockierend, wenn sie nur mit dem Ergebnis (Ei erfolgreich ausgebrütet) konfrontiert werden, als mit Schrecken festzustellen, dass sie sich über eine nahezu unterwindbare Distanz (zwischen 3 und 5 Km) zu Fuß an der Luft (also draußen, umgeben von Sauerstoff) bewegt haben?
Ohne die guten Absichten der Spielentwickler in diesem Fall allzu sehr in Frage stellen zu wollen – ich gebe ehrlich zu, dass ich das Zeitalter von Peter Pan, Tinkerbell und Hui Buh als weitaus weniger verstörend empfunden habe.