Wenn bei uns im Haus der Satz fällt: „Komm, wir lassen den Drachen steigen“, ist damit nicht gemeint, dass wir die Schwiegermutter auf den Mond schießen wollen, sondern er läutet ganz klar eine bestimmte Jahreszeit ein – den Herbst. So schön die ersten Frühlingstage auch sind, wenn die ganze Natur frisch und grün strahlt, überall Knospen aufplatzen und man sich völlig unerwartet den ersten Sonnenbrand einfängt, so sehr ich die lauen Sommerabende auf der Terrasse auch genieße – tief im Herzen bin ich eindeutig ein Herbst-/Wintertyp.
Wenn ich jetzt morgens Laufen gehe und die Luft so wunderbar erdig riecht, der Nebel tief über den Feldern hängt und die Blätter an den Bäumen nach und nach herrlich bunt werden, dann legt sich nach dem Sommer, in dem man ja angesichts des schönen Wetters mehr oder weniger einem starken Unternehmungszwang ausgesetzt ist, langsam eine angenehme Ruhe über die Natur – und über die Seele. Das nasse Laub auf dem Boden und der Nebel verschlucken alle lauten Geräusche und selbst wenn die Sonne hoch am Himmel steht, ist das Licht eher sanft und nicht mehr so grell. Ich kann mit Begeisterung Kastanien sammeln und stundenlang mit den Kindern Igel und Figuren basteln und hole mir den halben Wald zur Dekoration ins Haus, weil das so wunderbar gemütlich aussieht. Zugegebenermaßen bastelt mittlerweile nur noch meine kleinste Tochter mit mir Igel und Figuren, dafür aber mit einer Begeisterung für Drei und auf unserer Terrasse haust inzwischen eine ganze Igelarmee.
Es wird wieder früher dunkel und plötzlich ist auch nachmittags mal Zeit, sich wenigstens für eine halbe Stunde mit einer Tasse Kaffee und einem Buch auf die Couch zu setzen und die Seele baumeln zu lassen.
Diese Idylle wird grob gestört mit eingangs erwähntem Satz. Während wir früher, als die Kinder noch kleiner waren, zufrieden einem stinknormalen Seepferdchendrachen mit Schleifchenschwanz zugeschaut haben, wie er am Himmel hin- und herschaukelte, muss es jetzt natürlich etwas rasanter sein. Also wurden zwei Lenkdrachen angeschafft und wenn mein Mann noch dazu seine Lenkmatte mit einer Spannweite von über zwei Metern aufsteigen lässt, verdunkelt sich angesichts unserer Familienflotte schon mal die Sonne.
Prinzipiell ist es ein schöner Anblick, zumindest bei Menschen, die mit Lenkdrachen umgehen können und Sie ahnen vielleicht schon, dass meine Familie hier nur mäßig begabt ist – was den Spaßfaktor zumindest für mich deutlich verringert. Wenn man als Begleitung von drei Lenkdrachenfliegern unterwegs ist, hat das nicht die Spur von herbstlicher Gemütlichkeit. Nachdem sich bei den ersten Versuchen vor drei Jahren zwei der Drachen einander verhakt hatten und auch die Schnüre völlig verwickelt waren, werden die Piloten jetzt in einem so großen Abstand zueinander platziert, dass uns dieses Chaos erspart bleibt. Das hat für mich allerdings zur Folge, dass ich in ständiger Hektik von einem Drachenflieger zum anderen sprinte, um dem unwilligen Teil nach jedem Absturz Starthilfe zu geben. Und es gibt viele Abstürze! Das ist der zweite Punkt, der mir nur sehr verhaltene Begeisterung entlocken kann. Nicht nur, dass ich bei der ganzen Rennerei allmählich den Spaß an dem bunten Geflatter am Himmel verliere, es schlägt auch noch ständig rechts und links von mir ein. Ein bisschen komme ich mir vor wie ein Moorhuhn in dem gleichnamigen Computerspiel, nur bin ich zum Glück nicht ganz so ahnungslos.
Während es bei besagter Luftmatte einfach nur nervt, wenn sich zwei Meter Stoff mit einem satten Plopp um meinen Kopf wickeln, sind die beiden Flugobjekte der Kinder, die auf den klangvollen Namen „Calypso“ hören, schlichtweg gemeingefährlich. Nachdem mich der erste Calypso frontal in den Magen traf, war mein quietschroter Rucksack für den zweiten wohl eine Arte Landemarkierung. Ich vermute, dass ich einer Enthauptung nur deshalb entgangen bin, weil der liebe Gott für eine kleine Flaute gesorgt hat und der mörderische Luftangriff lediglich mit vollem Karacho die Schnalle meines Rucksacks traf anstatt meinen Nacken.
Der Rest der Familie hat dabei immer einen Heidenspaß und erklärt mir hinterher freudestrahlend, dass sich die doppelten Loopings mittlerweile voll krass fliegen lassen. Ach?! Ich selbst bin schon froh, dass ich nicht das Augenlicht verloren und keine offenen Wunden zu beklagen habe.
In dem kleinen Wäldchen an der Seite des Feldes bemerke ich einen kleinen Falken, der schweratmend in einem Baum sitzt. Vermutlich war er von seiner Vogelmama in keinster Weise darauf vorbereitet worden, dass irgendwann einmal bunte Plastikgeier seine Flugbahn kreuzen könnten. Da wünscht er sich in seinem Vogelherzen vermutlich in eine Zeit zurück, in der es noch hieß „Der Wald steht still und schweiget und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar“ …