Gertrud und der böse Wolf

Sie kennen solche Schlagzeilen sicherlich: „50 ist das neue 30“, „Du bist nicht alt, sondern einfach nur schon ein bisschen länger jung“ oder „Man ist so alt, wie man sich fühlt“. Über solche Phrasen stolpere ich meistens an Tagen wie heute, an denen ich davon überzeugt bin, dass „49 eigentlich das neue 80“ ist.

Passend zu dieser Stimmung stapfe ich im jahreszeitlich bedingten Schmuddelwetter meinem Hund hinterher, die Wolken hängen ähnlich tief wie meine Gemütslage. Nichtsdestotrotz versuche ich, mein Auge für die Schönheit der herbstlichen Natur zu öffnen. Das gelingt mir zumindest ansatzweise, wenn die Schätze von Flora und Fauna nicht allzu weit entfernt sind, denn meine Sehschärfe lässt ab einer gewissen Distanz doch deutlich zu wünschen übrig. Da bricht die Sonne hinter den Wolken hervor und ich muss zugeben, dass die wunderbar bunten Farben der Blätter und der erdige Geruch meine Laune doch erheblich bessern. Eine reife Leistung, denn meine Stimmung war zu Beginn meiner Laufrunde ähnlich gereizt wie mein Ischiasnerv.

Auf der Suche nach meiner Motivation – wer sucht mit?

Von „50 ist das neue 30“ bin ich an diesem Morgen trotzdem weit entfernt und wenn ich so alt wäre, wie ich mich fühle, könnte ich direkt in Rente gehen. Rein aus Motivationsgründen ziehe ich ernsthaft in Erwägung, diese Trainings-App auf meinem Smartphone zu installieren, die alle 500 Meter in Jubelrufe ausbricht und applaudiert, während ich hinter Lennox über den Feldweg keuche. Der Mensch ist ja bekanntlich ein Herdentier und dieser Wesenszug ist bei mir besonders beim Joggen sehr ausgeprägt. Stoisch starre ich auf den Rücken der schwarz-weißen Flauschkugel, die in flottem Tempo vor mir über den Schotter trabt. Da ich bei unseren Morgenrunden das einzige Mitglied seiner „Herde“ bin, ist er angesichts meiner abgehackten Atemgeräusche doch ein wenig beunruhigt und mustert mich immer wieder mit einem Blick, dem man die Frage, ob der leise Pfeifton, der meine Atemzüge begleitet, für meine Rasse normal ist oder Anlass zur Besorgnis gibt.

Dass es jedoch auch immer wieder mal zu Begegnungen kommt, nach denen ich mich deutlich jünger fühle als ich eigentlich bin, betrachte ich als Geschenk des Universums, das ansonsten eher dazu neigt, meine vielleicht auch etwas unklar formulierten Wünsche zu ignorieren. Hinter einem kleinen Waldstück treffen wir auf eine ältere Dame in apfelgrüner Sportbekleidung. Sie hält einen sehr aufgeregten Pudel an der Leine und fixiert mit starrem Blick einen Punkt auf dem angrenzenden Feld. Als sie uns bemerkt, kommt sie im Laufschritt auf uns zu.

 

Der Wolf, das Reh, auf der grünen Wiese – oder was davon im Herbst so übrig ist

Im breiten Hessisch ruft mir Frau Apfelgrün entgegen: „Sie müsse uffbasse! Da is e Rudel Wölfe uffm Acker. Die Gertrud hat des gleich erkannt und sofort angeschlache. Gell, Getrud?“

Bei Getrud muss es sich wohl um den Pudel handeln, dem Frau Apfelgrün liebevoll den Kopf tätschelt und der ihre Bemerkung mit schrillem Gebell quittiert – vermutlich übersetzt Gertrud simultan, damit auch Lennox über die Anwesenheit der Raubtiere im Bilde ist. Nun ja… Hatte ich eben noch an meiner Sehschärfe gezweifelt, so habe ich im Vergleich zu dem Pudelfrauchen ganz eindeutig Adleraugen. Ich muss nicht mal die Augen zusammenkeifen, um zu erkennen, dass die „Wölfe“ den einheimischen Rehen zum Verwechseln ähnlich sehen. Besagtes „Rudel“ steht friedlich auf dem Feld und zupft gelassen grüne Hälmchen aus der Erde. Ich überlege, ob ich meinem Gegenüber eine Brille oder lieber gleich ein Fernglas empfehlen soll und komme mir gleichzeitig um Jahre verjüngt vor.

„Nun ja“, beginne ich mit ernster Stimme. „Das ist dann wohl eine neue Züchtung, die da ausgewildert wurde. Die sehen den Rehen hier in der Gegend täuschend ähnlich und sind offenbar Veganer… zumindest fressen sie Gras.“

Frau Apfelgrün blinzelt irritiert und selbst der Pudeldame verschlägt es vorübergehend die Sprache.

„Ja, des ist ja kaum zu glaube“, sagt mein Gegenüber kopfschüttelnd. „Was die Wissenschaft heutzudach alles fertisch bringt: Hunde, die kei Haarn mehr verliern, damit die Leut net allergisch reagiern, Katze ohne Fell und jetzt Wölfscher, die kei Fleisch fresse. Sache gibt’s …“

Ironie und Sarkasmus – kann ich!

In der sicheren Annahme, wir beide wären uns einig, dass es sich hier um eine optische Täuschung handelt, über die wir scherzhaft hinwegplänkeln, erwidere ich augenzwinkernd: „Naja, es sollen ja immer mehr Wildtiere in der Nähe von Städten und kleineren Ortschaften ausgesiedelt werden. Da muss man schon Mittel und Wege finden, dass die nicht ihrer Natur nachgeben und Rehe jagen. Ist ja auch für Spaziergänger kein schöner Anblick, so eine Hetzjagd. Vermutlich sehen die deswegen auch den Rehen so ähnlich, damit keine Panik unter den vermeidlichen Beutetieren entsteht.“

Gertrud und ihr Frauchen schweigen beeindruckt und werfen einen letzten neugierigen Blick in Richtung der genetisch neu ausgerichteten Raubtiere, die in ihren Augen schon fast Haustierqualität besitzen. Im Weggehen höre ich Frau Apfelgrün sagen: „Da muss mer sich mal überlesche, dass die Geschicht vom Rotkäppsche oder von dene siebbe Geißlein aach anners ausgegange wär, wenn der Wolf zu der damalische Zeit schon Veganer gewese wär.“

Mit großen Augen sehe ich den beiden nach, während Lennox mich mit einem strafenden Blick mustert, als wolle er sagen: Das kommt davon, wenn das Gehirn beim Joggen temporär mit Sauerstoff unterversorgt ist! Dann erzählst du so wilde Geschichten und versaust den Kollegen den Ruf.

Ironie und Sarkasmus passgenau rüberbringen… kann ich!

 

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