Ein zauberhafter Irrtum

Nina stapfte mit hochgezogenem Mantelkragen die Einkaufsstraße entlang, die Augen fest auf das verschneite Kopfsteinpflaster gerichtet. Aus den umliegenden Geschäften vermischten sich die verschiedensten Weihnachtslieder zu einem unverständlichen Singsang und überall hasteten Menschen mit Tüten und Päckchen beladen an ihr vorbei. Aus nahezu jedem Schaufenster winkte ein Weihnachtsmann von einem Schlitten, bepackt mit einem großen Stapel bunter Päckchen oder es grinste ihr ein pausbäckiger Engel entgegen. Überall blinkten bunte Lichter und auf der Haupteinkaufstraße rannte man alle drei Meter in einen mit glitzernden Kugeln geschmückten Weihnachtsbaum hinein.

In dieser Zeit könnte man angesichts der überschwappenden Weihnachtseuphorie fast eine ausgewachsene Psychose entwickeln, dachte Nina missmutig. Gerade rechtzeitig hatte sie aufgesehen, sonst wäre sie frontal in einen beleibten Weihnachtsmann hineingelaufen, der neben einem animierten, lebensgroßen Rentier vor der Filiale einer bekannten Parfümeriekette kleine Geschenke verteilte und so versuchte, die Passanten in den Laden zu locken.

Es war nicht so, dass Nina die Weihnachtszeit nicht mochte, aber gerade diese jahreszeitlich bedingte Invasion an bärtigen, älteren Männern in roten Samtanzügen, die nahezu jeden Fleck der Stadt zu bevölkern schienen, hatte auf sie eine ähnliche Wirkung wie ein rotes Tuch auf einen Stier. Ganz egal, wo sie sich gerade befand, überall tauchte ein Mitglied dieser merkwürdigen Bruderschaft auf, brüllte ihr enthusiastisch „Ho ho ho“ ins Ohr oder bimmelte lautstark mit seiner Glocke, so dass die Umstehenden fast taub wurden und kleine Kinder erschrocken anfingen, zu weinen. In Kaufhäusern, Supermärkten, Kinos und sogar im Eingangsbereich des Bürogebäudes, in dem Nina arbeitete – nirgends war man vor dieser Weihnachtsmannoffensive sicher und als sie gestern in der Kassenschlange einer Drogerie schon wieder von einem verschwitzten Vertreter dieser Zunft dröhnend laut aufgefordert wurde, ein Weihnachtsgedicht aufzusagen, wäre sie fast handgreiflich geworden.

* * * *

Froh, endlich zu Hause zu sein, schloss Nina mit einem erleichterten Seufzer die Tür ihrer kleinen Wohnung hinter sich, die im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses in einer ruhigen Seitenstraße lag. Zumindest war es hier immer ruhig gewesen, bis im Hinterhaus ein Pärchen eingezogen war, das jedes noch so unspektakuläre Ereignis zum Anlass nahm, eine schrille Party zu feiern.

Mit einem abgrundtiefen Seufzer bemerkte Nina, dass dort auch heute wieder laute Musik aus dem zweiten Stock dröhnte und durch die bodentiefen Fenster ihres Wohnzimmers konnte sie sehen, dass das Partygetümmel bereits in vollem Gange war. Der Anblick ließ ihre ohnehin schon miese Laune ins Bodenlose sinken. Ungläubig beobachtete sie etliche Partygäste in den verschiedensten Weihnachtsmannkostümen, die blinkten, glitzerten oder wirkten, als kämen sie direkt zurück aus der Zukunft. Bei einigen Verkleidungen ließ das Wort „Kostüm“ allerdings auf mehr Stoff schließen, als tatsächlich für den merkwürdigen Fummel verwendet worden war. Auf den ersten Blick hätte es sich auch um die Weihnachtsfeier in einer Tabledance Bar handeln können.

Kaum zu glauben, dass man es hier mit erwachsenen Menschen zu tun hat, dachte Nina säuerlich und ging in ihr Schlafzimmer, um ihren Hosenanzug gegen einen bequemen Feierabendlook einzutauschen. Schnell schlüpfte sie in Jeans und ein weiches Sweatshirt und löste mit einem Griff den Knoten, zu dem sie ihre dunklen, lockigen Haare tagsüber meist hochsteckte. In weichen Wellen fielen sie ihr auf die Schultern und sie warf ihrem Spiegelbild noch einen prüfenden Blick aus ihren grünen Augen zu. Deutlich entspannter ging Nina in die Küche, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Den Trubel so gut es ging ignorierend, ließ sie sich mit ihrem Teller und einem Glas Wein auf das Sofa fallen, stellte beides auf dem kleinen Couchtisch ab und griff nach der Fernbedienung ihres Fernsehers. Mit langem Gesicht schaltete Nina die verschiedenen Programme durch und seufzte resigniert. Sie hatte die Wahl zwischen einer Reportage über Weihnachtsmänner im Wandel Zeit und einer Live-Sendung, in der Prominente für einen Tag in die Rolle des Weihnachtsmanns oder des Christkindes schlüpften und ahnungslose Familien beim Abendessen mit völlig beschränkten Spielchen überfallen durften.

Kopfschüttelnd zappte Nina weiter zu „Das Wunder von Manhattan“, über „Buddy, der Weihnachtself“ und landete schließlich bei „Die Geister, die ich rief“. Das ist doch die reinste Gehirnwäsche, dachte sie missmutig, schaltete den Fernseher ab und griff nach dem neuen Buch, das sie von einer Kollegin geschenkt bekommen hatte. Mit leiser Verzweiflung las Nina den Klappentext. Ein Psychothriller, der in New York in der Vorweihnachtszeit spielt und in dem ein irrer Serienkiller als Weihnachtsmann verkleidet alleinstehende Frauen in ihren Wohnungen überfällt, dachte sie voller Ironie und schlug die erste Seite auf. Da kommt man ja zur Abwechslung mal auf andere Gedanken!

Überraschenderweise dann doch völlig vertieft in die packende Geschichte, fuhr Nina erschrocken zusammen, als plötzlich mehrmals stakkatoartig die Türklingel ertönte. Mit einer Gänsehaut auf den Armen und immer noch in der Welt ihres Buches gefangen, ging sie zögernd zur Wohnungstür und sah durch den Türspion. Niemand war zu sehen und sie öffnete die Wohnungstür nur einen kleinen Spalt. Wie aus dem Nichts dröhnte plötzlich „You can leave your hat on“ von Joe Cocker in ohrenbetäubender Lautstärke durch das Treppenhaus. Nina zuckte erschrocken zurück und starrte in den schwach beleuchteten Hausflur, der an einer Wand endete, hinter der sich der Treppenabgang verbarg. Argwöhnisch machte sie einen Schritt aus der heimeligen Sicherheit ihrer Wohnung heraus, als an eben diesem Treppenabsatz ein Bein auftauchte, das in einer seltsamen, roten Hose und einem Stiefel steckte. Gleichzeitig mit dem zweiten Bein erschien der Rest von einem großen und recht gut gebauten Weihnachtsmann (soweit man unter dem roten Samtfummel erkennen konnte), der mit dem Rücken zu ihr lasziv die Hüften im Takt der Musik kreisen ließ. Ninas Augen wurden immer größer, als er den Kopf hin- und herwarf, auf dem eine Mütze mit einer leuchtenden Bommel fröhlich blinkte und sich mit den Händen auf den Hintern schlug.

Ich bin auf einem fremden Planeten, dachte Nina entgeistert, als der Weihnachtsmann anfing, langsam seinen Gürtel zu lösen, ihn auf den Boden schleuderte und die Jacke langsam nach unten gleiten ließ. Als er dabei einen sinnlichen Blick über seine Schulter warf und Nina registrierte, die ihn mit offenem Mund anstarrte, stockte er kurz. Immer noch im Takt des Songs, den er lautlos mitsang, drehte er sich um und unter der offenen Nikolausjacke erhaschte Nina einen Blick auf einen perfekt definierten Sixpack. Wovon ist der Kerl so durchtrainiert, dachte sie irritiert. Vom Zureiten seiner Rentiere?

Ein paar braune Augen zwinkerten ihr oberhalb eines ausladenden, weißen Bartes zu und endlich fand Nina ihre Sprache wieder. „Was zum Teufel soll dieser Quatsch?“

Abrupt blieb der Weihnachtsmann stehen und seine Augen blickten sie verwirrt an. Ein unverständliches Brummen erklang aus den Tiefen des Bartes.

Nina zeigte auf ihre Ohren und rief lauter: „Ich kann dich nicht hören. Die Musik ist zu laut.“

Er verschwand kurz auf der Treppe und die Musik erstarb. Zögernd tauchte er wieder hinter der Wand auf und zog den Bart ein Stück nach unten. Ninas Blick blieb an seinem Mund hängen, der unverschämt sexy aussah. Vielleicht lohnte sich ja doch ein zweiter Blick, dachte Nina fasziniert, und überhörte ganz offensichtlich eine Frage, denn der Weihnachtsmann schnipste ungeduldig mit den Fingern.

Sie fuhr zusammen. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Ich sagte, ich bin für heute gebucht worden. Schillerstraße 12 a, zweiter Stock, 19.00 Uhr“, antwortete er und sah sich fragend um.

Er zog sein Smartphone aus der Tasche, tippte darauf herum und hielt ihr das Display unter die Nase, auf dem eine Email zu sehen war.

Nina schob seine Hand ein Stück zur Seite. „Das mag ja sein. Aber Schillerstraße 12 a ist das Hinterhaus. Das hier ist Nr. 12, zweiter Stock – und ich habe dich ganz sicher nicht gebucht.“

„Verdammter Mist, das ist mir jetzt aber peinlich“, brummte der verirrte Weihnachtsmannverschnitt und zog von der Treppe eine Tasche zu sich heran, in der er eine große, mobile Bass-Box verschwinden ließ. „Ich bin noch nicht so lange bei der Truppe und dann baue gleich am Anfang solchen Mist.“

Nina lehnte im Türrahmen und beobachtete ihn. „Bei welcher Truppe bist du denn?“

Er sah auf und lächelte. „Rexins Event-Agentur – ich will mir so mein Studium finanzieren.“

„Ach, du läufst gar nicht immer so herum und ziehst dich in fremden Treppenhäusern aus?“ Nina zog die Augenbrauen hoch. „Das beruhigt mich.“

Über seinem weißen Bart sah sie, wie er verlegen errötete. „Nein. Genau genommen ist das erst mein zweiter Einsatz.“

„Was warst du beim ersten Mal? Das Christkind?“

Er grinste schief. „Nein. Das war an Halloween, da war ich ein sprechender Kürbis.“

Nina brach unwillkürlich in schallendes Gelächter aus. „Und den hast du dir dann lasziv in zwei Hälften vom Körper gerissen?

„Nein, da war ich für eine Kinderparty gebucht, die wollten nicht wissen, was ein Kürbis drunter trägt.“ Er grinste schief. „Heute habe ich für alle Fälle eine Boxershorts mit Rentieren drunter – da ist dann die natürliche Grenze!“

Nina grinste breit. „Das werden deine Auftraggeber sicher bedauern.“

Sie beobachtete, wie er sich sein Kostüm zurückzupfte und den Gürtel aufhob. „Willst du vielleicht kurz reinkommen? Ich denke, mit Spiegel geht das einfacher.“

Dankbar sah er sie an. „Gute Idee, danke. Ach übrigens, ich bin Patrick.“

Sie lächelte. „Nina.“

Er schnappte sich seine Tasche und folgte ihr in die Wohnung. Anerkennend sah er sich um. „Schön hast du es hier.“

„Danke“. Nina deutete auf die Rückseite der Wohnungstür. „Da ist der Spiegel. Willst du vielleicht noch etwas trinken, bevor du dich ins Getümmel stürzt?“

Patrick stand vor dem Spiegel, zog sich die rote Jacke zurecht und schloss die Schnalle des schwarzen Ledergürtels. „In welches Getümmel?“

Nina sah ihn an. „Weißt du denn gar nicht, wofür du gebucht worden bist?“

„Naja, für einen Nikolaus-Abend, als Gag.“

„Ja, du Gag. Dann komm mal her und schau dir das an.“ Sie nickte mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer und ging zum Fenster.

Patrick folgte ihr, sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Nina zeigte wortlos auf die Fenster der Wohnung im Hinterhaus, die einen wunderbaren Blick auf die Weihnachtsparty boten, die schon in vollem Gange war. Dort kreisten allem Anschein nach nicht nur ein paar Flaschen Sekt, sondern auch etliche Partygäste die Hüften. Einige Nikolaus-Frauen in Netzstrumpfhosen tanzten gerade einen schmächtigen Nikolaus an und machten sich an seiner Jacke zu schaffen. Genau vor dem Fenster rockte eine junge Frau mit einem riesigen Geweih auf dem Kopf und einer blinkenden, roten Nase. Wenn man sich allerdings das Rentierkostüm betrachtete, lag die Vermutung nahe, Rudolph wäre kurz vor Weihnachten bis auf wenige Stellen geschoren worden oder hätte Haarausfall.

Patricks Augen wurden groß und er rieb sich mit dem Finger die Nase. Nina betrachtete unauffällig sein Gesicht und ihr Blick blieb wieder an seinen Lippen hängen. Die Bilder, die ihr da gerade durch den Kopf gingen, lieferten eine ganz andere Version von „Lasst uns froh und munter sein“. Unter der Nikolausmütze schauten ein paar dunkle Locken hervor und insgeheim hatte Nina schon immer eine Schwäche für schokoladenbraune Augen gehabt. Wenn er nur nicht ausgerechnet in so einem furchtbaren Kostüm stecken würde . . .

Da wurde ihr bewusst, dass Patrick sie ebenfalls intensiv musterte.

„Was ist?“, fragte sie und fühlte sich ertappt. „Musst du nicht los?“

Über den Innenhof schallten wummernde Bässe, als kurzzeitig die Balkontür geöffnet wurde.

Patrick schüttelte den Kopf und sagte leise: „Dieser ganze Mist ist eigentlich gar nicht mein Ding.“

Nina erwiderte ebenso leise: „ Weihnachtsmänner sich eigentlich auch nicht mein Ding.“

Er grinste und berührte mit seiner Hand sanft eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares. „Und dann stehe ausgerechnet ich vor deiner Tür.“

Nina legte den Kopf schief und lächelte. „Naja, vielleicht bist du ohne Kostüm gar nicht so übel.“ Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Ich meine, in anderen Klamotten, . . . also in Kleidern, . . . also in Jeans oder so.“

Patrick zögerte einen Augenblick, dann ließ er die Hand sinken und ging zur Tür. Nina sah ihm irritiert nach. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Wo gehst du hin?“

An der Wohnzimmertür, deren Türrahmen er mit seiner Statur fast völlig ausfüllte, drehte er sich um und schmunzelte. „Ich dachte, ich gehe kurz ins Bad und ziehe mich um – wenn damit meine Chancen bei dir steigen.“

Damit verschwand er in ihrem winzigen Badzimmer und Nina stand verzaubert am Fenster. Hinter ihr erklang passenderweise der Klassiker „Last Christmas“ und sie dachte, dass sie ihr Herz dieses Jahr vielleicht tatsächlich an jemand Besonderen verschenken würde – auch wenn sie eigentlich gar nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte . . .

 

 

 

 

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