Meine Tochter, der Grizzly, mein Panikmodus und ich

Natürlich wissen alle Eltern, dass der Nachwuchs irgendwann flügge wird. Das ist ja auch Sinn der Sache. Die Kinder werden größer (zumindest körperlich) und erwachsen (hoffentlich auch innerlich) und verlassen das heimatliche Nest. Wenn alles gut läuft, finden sie ihren eigenen Weg und wir Eltern können mit einer gewissen Erleichterung aufatmen, dass der ganze Nervenstress vorbei ist und sich die grauen Haare ja glücklicherweise färben lassen.

So oder so ähnlich ist der theoretische Plan, der jedoch gelegentlich und völlig unerwartet mit der Praxis kollidiert. Gefühlsmäßig erwartet man eine räumliche Trennung vom liebevoll aufgepäppelten Nachwuchs ungefähr ab Anfang 20, wenn dieser halbwegs auf eigenen Beinen steht. Was meine Kinder angeht, ist das noch weit weg und somit besteht kein Grund zur Panik. Dachte ich! Diese emotionale Sicherheitsblase, in der ich mich befand, platzte jedoch mit einem Schlag, als mir meine große Tochter eröffnete, sie möchte gerne im Rahmen eines Schüleraustauschs für ein halbes Jahr nach Kanada gehen. Zuerst haben wir uns beide herzlich angelacht – ich, weil ich dachte, sie macht ja trotz der Pubertät noch Witze; sie, weil sie dachte, ich freue mich mit ihr. Das Lachen verging mir ziemlich schnell, als ich den Ernst der Lage erkannte. Und als auch noch mein Mann völlig begeistert auf diesen Vorschlag reagierte, kam ich mir vor, wie auf einem anderen Planeten.

Kanada? Das ist doch am anderen Ende der Welt

Der Katastrophenmodus war mit einem Mal aktiviert und meine Antwort war ein kategorisches und spontanes „Nein“. Seit 9/11 und anderen Flugzeugkatastrophen sehe ich Flugreisen generell mit gemischten Gefühlen entgegen und bei der Vorstellung, dass meine 16-jährige Tochter (16!!) alleine im Flugzeug zum anderen Ende der Welt unterwegs ist, zwischendurch umsteigen muss, eventuell das Gepäck verloren geht, der Flieger einen technischen Defekt über den Wolken hat, sie den Reisepass, das Visum oder das Flugticket verliert, die Gastfamilie vielleicht vergisst, sie abzuholen oder sie sich plötzlich in einen kanadischen Holzfäller verliebt, der sie in Bärenfelle gehüllt mit in seine Blockhütte nimmt, ist mein Wortschatz auf ein einziges Wort zusammengeschrumpft: NEIN!

Und überhaupt, die Gastfamilie!! Ha! Heutzutage könnte sogar die Adams Family dank Photoshop vortäuschen, dass sie in einem normalen Reihenhäuschen wohnt und nicht in Särgen schläft. Auch bei einem gemütlichen Kaffeeklatsch per Skype müssen merkwürdige Wesenszüge der Gasteltern nicht unbedingt offensichtlich zutage treten. Meine Familie und ich wirken ja auf den ersten Blick auch ganz normal …

Eine Bekannte wollte mich beruhigen und erzählte, ihre Tochter wäre von der Gastfamilie so begeistert gewesen, dass sie nach ihrer Rückkehr gesagt hätte, sie hätte jetzt zwei Mütter – eine hier und eine in den USA! Anhand meines Gesichtsausdrucks war wohl sofort klar, dass DER Schuss nach hinten losging. Zu allem Überfluss führt so ein Auslandslandsaufenthalt also auch noch zur völligen Entfremdung zwischen Mutter und Tochter – na bravo! Im Übrigen herrscht bei mir ganz klar das Prinzip: Es kann nur eine (Mama) geben! Basta!

Kanada! Da gibt es Bären in Superheldenübergröße, Wölfe, Pumas und Berge mit tiefen Schluchten und viel Wald – alles sieht in jeder Richtung also fast gleich aus. Wie soll das Kind aus diesem Dschungel wieder nach Hause finden, wenn sie sich einmal um die eigene Achse dreht? Der zarte Hinweis meines Mannes, Montreal wäre eine Stadt, zählt nicht. Auch in Frankfurt kommen die Wildschweine bis in die Vorgärten – was also sollte einen Grizzly in Kanada von urbanen Besuchen abhalten?

Die Logik der Frau steckt noch in Adams Rippe

Nach mehreren Wochen, in denen sich meine Familie im emotionalen Ausnahmezustand befand (also vorwiegend ich), bat mein Mann, ich solle mein „Nein“ doch wenigstens mal logisch begründen. Ähm … Als Frau verfüge ich über zahlreiche Talente und wir haben uns im Laufe der Jahrhunderte deutlich von Adams Rippe emanzipiert, aber es ist ganz sicher nicht meine Bestimmung, Dinge logisch zu erklären. Wird man als Frau plötzlich logisch, ist man berechenbar und damit geht die ganz geheimnisvolle Aura flöten, die uns sonst umgibt! So muss sich Aschenputtel um Mitternacht gefühlt haben, als sich die Kutsche vor den Augen des Prinzen wieder in einen Kürbis verwandelt hat. Als Frau kommt man mit Logik nicht unbedingt weiter.

Aber es gibt da ja diese kleinen Momente, in denen man mit sich alleine ist und im stillen Kämmerlein schonungslos ehrlich zu sich selbst sein kann. Da geht das, weil man nur sich selbst Rede und Antwort stehen muss. Und da weiß ich natürlich, dass mein „Nein“ nichts mit defekten Triebwerken, verrückten Passagieren, Grizzlybären, Pumas oder dem mangelhaften Orientierungssinn meiner Tochter zu tun hat, sondern einzig und alleine mit der Tatsache, dass ich sie so unglaublich vermissen werde und mir nicht vorstellen kann, diese zauberhafte Geschöpf ein halbes Jahr nicht bei mir zu haben. Ich werde ihr Wäschechaos hinter der Badezimmertür (ich erwähnte das bereits, oder?!), ihre benutzten Abschminkpads im Waschbecken und die endlosen Diskussionen vermissen, mit denen sie mich täglich in den Wahnsinn treibt. Ich werde es vermissen, dass „The Vampire Diaries“ oder „Prison Break“ nicht mehr in voller Lautstärke aus ihrem Zimmer dröhnt und auch ihr ungemachtes Bett, das morgens immer so herrlich nach ihr riecht, wird mir fehlen. Ich werde selbst ihre Muffeligkeit beim Frühstück vermissen und auch die Hektik, die sie noch fünf Minuten vor Abfahrt des Busses verbreitet. Bei der Vorstellung, sie könnte ihre Gastmutter wirklich so toll finden, dass sie … darüber möchte ich selbst im stillen Kämmerlein gar nicht nachdenken.

Mitten in diesem Gedankenkarussell kommt sie herein, während ich wie ein Häufchen Elend an meinem Schreibtisch sitze. Sie legt mir die Arme um den Hals, drückt mir einen Kuss auf die Stirn und sagt:“ Es ist doch nur ein halbes Jahr. Und egal, wie lange ich weg bin und wo ich hingehe – ich werde niemanden so liebhaben wie dich!“

Ich werde es auch vermissen, dass sie in solchen Momenten genau die richtigen Worte findet und immer ein Taschentuch parat hat, wenn ich im entscheidenden Augenblick mal wieder eins brauche …

2 Replies to “Meine Tochter, der Grizzly, mein Panikmodus und ich”

  1. Sie kommen immer wieder, wie ein Bumerang, verlass Dich drauf. Und Du wirst Dich immer freuen, wenn sie wieder aufschlagen und eine große Tasche Dreckwäsche mitbringen und den Kühlschrank leerfuttern.
    Liebe Grüße von Jemandem, der diesbezügliche Erfahrungen hat
    Rainer

    • Ich denke auch, ich werde mit glückseligem Strahlen vor den Bergen dreckiger Wäsche stehen und den Kühlschrank auffüllen 🙂 Sofern mein Bumerang nicht aus Versehen einen Grizzly trifft und im Bärenfell stecken bleibt 😉

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