Die ungeschminkte Wahrheit

Abgeschminkt

Abgeschminkt

Abgeschminkt

oder: den nackten Tatsachen ins Auge sehen…

In einer Zeit, in der die unterschiedlichsten Weltuntergangszenarien immer wieder ausgegraben und in den düstersten Farben dargestellt werden, in der wir ständig über Begriffe wie Transformation, veränderte Bewusstseinsebenen und spirituelles Erwachen des inneren Kerns stolpern, stehen Veranstaltungen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, ähnlich hoch im Kurs wie die neueste Staffel von „Bauer sucht Frau“. Je abstruser, desto höher ist der Unterhaltungswert und leider sinkt das Niveau dazu exponentiell. Vorbei sind gesellige Runden wie Tupper-, Schmuck oder Thermomix-Parties – heute holt man sich seine eigene Realityshow ins Wohnzimmer und kann in einem dreistündigen Crash-Kurs transformieren, meditieren, sich hypnotisieren lassen oder dem nackten, inneren Ich begegnen (rein spirituell natürlich).

Ich habe wirklich großen Respekt vor Menschen, die sich seriös und niveauvoll mit Themen wie REIKI, Meditationen, Heilkreisen oder ähnlichen Dingen auseinandersetzen oder diese praktizieren, aber eine esoterisch angehauchte, psychoanalytische Gruppenbewegung in den eigenen vier Wänden, die an einem Abend bahnbrechende Erkenntnisse verspricht, macht mich eher skeptisch.

Vor einigen Tagen wurde ich von einer Bekannten zu einem Abend eingeladen, der unter dem Motto stand „Abgeschminkt – das Bekennen zum eigenen Ich“. Es ging wohl darum, sich selbst und anderen gegenüber jeden Zwang zur Selbstinszenierung abzulegen, sich auf das eigene ungeschminkte und ungestylte Ich einzulassen und dieses auch nach außen entsprechend schnörkellos vertreten zu können. Am besten so, wie Mutter Natur uns geschaffen hat – und bevor Sie fragen: Ja, natürlich bekleidet.

Man soll sich von dem Druck befreien, der Außenwelt ein bestimmtes und möglichst störungsfreies Bild von sich selbst präsentieren zu müssen – gerade auch im Hinblick auf die sozialen Medien, wo oft in stundenlangen Fotosessions ein „spontanes Selfie“ geschossen wird, um das eigene Leben als eine einzig positive und heitere Verkettung günstiger Umstände darzustellen. Soweit, so gut!

Um diese umfassende Erfahrung bis ins letzte Detail ausschöpfen zu können, bedeutet „abgeschminkt“ genau das, was man vermutet: kein Make-up, kein Lippenstift, kein Styling und am besten auch keine rasierten Achseln. Ich habe einige Zeit darüber nachgedacht und kam – egal von welcher Seite ich das Ganze betrachte – immer wieder zu dem Schluss: Danke, aber nein danke! Die Gründe dafür sind vielfältig.

Zum einen begegne ich meinem unverschnörkelten Ich jeden Morgen unmittelbar nach dem Aufstehen im Badezimmer vor dem großen Spiegel. Mein Ich hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert – mal mehr, mal weniger positiv, aber wenn wir uns morgens so gegenüberstehen, müssen wir nahezu täglich erstmal tief Luft holen, obwohl wir uns schon so lange kennen. Wir begrüßen uns leicht verhalten, haben uns zwar aneinander gewöhnt und vertragen uns für gewöhnlich ganz gut – auch wenn sich mein Ich zu meinem Leidwesen in erster Linie an einem zentralen Punkt um meine Taille herum zu sammeln scheint, während es die restliche Fläche meines Körpers eher ignoriert.

Wenn ich nun an manchen Tagen mein Ich zweifelnd und leicht missmutig anschaue und denke, es hat ganz eindeutig schon bessere Tage gesehen, dann ist das eine Sache. Eine völlig andere ist es jedoch, in einer Gruppensitzung darauf bauen zu müssen, dass sich alle Anwesenden den Schlupflidern oder der absinkenden Gesichtsstruktur ähnlich großzügig annähern wie ich in den letzten, äh, etwas über 40 Jahren und nicht erstmal erleichtert aufseufzen – nach dem Motto, die Hälfte der Teilnehmer sieht eindeutig schlimmer aus als ich – und sich dann gönnerhaft und überlegen auf die Suche nach dem inneren Kern machen. Das ist definitiv nichts für mich!

In der Diskussion mit meiner Bekannten stellte sich die Frage, warum muss man so etwas überhaupt tun? Warum muss ich mich der Welt da draußen in einer Art und Weise präsentieren, in der man mir schonungslos auch Zeiten ansieht, in denen es ganz und gar nicht gut läuft? Und will das die Welt da draußen überhaupt wissen?

In einer Gesellschaft, in der es offenbar schon schwerfällt, Mitgefühl und Respekt mit Menschen zu haben, die mit ihren Familien aus Kriegsgebieten fliehen müssen, die Hunger, Leid und Gewalt in einem unvorstellbaren Ausmaß erlebt haben und von denen sich merkwürdigerweise ein Teil der Gesellschaft in ihrer eigenen Bequemlichkeit bedroht fühlt, da soll man darauf bauen, dass man mit wesentlich geringeren Ängsten und Problemen wahr- und ernstgenommen wird? Ja, unsere Gesellschaft inszeniert sich heute im großen Maße selbst und oftmals so übertrieben, dass die Grenze der Glaubwürdigkeit weit überschritten wird. Aber ist das nicht auch unser gutes Recht?

Wer möchte denn ernsthaft auf die oft nur rethorisch gemeinte Frage „Wie geht es dir?“ eine ehrliche Antwort haben und hören, dass die Wechseljahre gerade depressiv machen, der Vater oder die Mutter gestorben ist, der Sohn in der Schule völlig aus dem Ruder läuft, der erste Freund der Tochter kokst, der Mann von seinem zweiten Frühling mit der 20 Jahre jüngeren Sekretärin träumt, die Katze eingeschläfert werden musste oder einem nach mehr als 20 Jahren der Job gekündigt wurde? Wer möchte ehrlich wissen, dass man im Leben gerade gefühlt von einer Baustelle in die nächste taumelt und die aufgeschlagenen Knie kaum verheilen, weil einem langsam die Pflaster ausgehen? Nur allzu oft wird man mit Floskeln wie „Das wird schon wieder“, „Augen zu und durch“ oder „Reiß’ dich zusammen und weiter geht’s“ abgefertigt und kann sich nur in einer Sache wirklich sicher sein – nämlich dass man für Gesprächsstoff sorgt.

Ich muss definitiv nicht immer so aussehen, wie ich mich fühle und völlig ungeschminkt bin ich wirklich nur, wenn ich zum Sport gehe oder mein „Egal-Pegel“ aufgrund nächtlicher „Durchfall-Kotz-Fieber-Bauchweh-Albtraum- oder Hustenattacken und dem damit verbundenen Schlafentzug so hoch ist, dass ich mir glaubhaft versichern kann, meine Umwelt nimmt mich nur genauso verschwommen wahr wie ich sie.

Abgesehen davon möchte ich auch nicht jedem Menschen einen Einblick in meinen gegenwärtigen Gemütszustand geben und es ist meine Entscheidung, ob und wo ich diese Maske fallen lasse – zudem ich dazu bei Menschen, die mich wirklich gut kennen, nicht ungeschminkt sein muss. Diese ganz besonderen Freunde, die – und da gebrauche ich jetzt mal das entsprechende Fachvokabular – auf der gleichen Ebene schwingen und mit denen man emotional eng verbunden ist, sehen auf den ersten Blick, ob unser Lächeln die Augen erreicht. Sie können den Klang unserer Stimme deuten und spüren exakt, ob gerade heute alle verdammten Gläser dieser Welt prinzipiell halb leer sind, egal auf welcher Ebene ich mich gerade bewusst oder unbewusst befinde.

Ist es wirklich als eine Heldentat anzusehen, die den Fortbestand meiner Seele im Falle einer transzendentalen Spaltung der Welt sichert, wenn ich mich in Gegenwart wildfremder Menschen in einem Crash-Kurs seelisch ausziehe und über meine eigenen Grenzen trampele? Man ist doch wieder auf Gedeih und Verderb dem Urteil anderer ausgesetzt und bekommt im schlechtesten Fall bestätigt, dass es langsam eng wird mit dem Erreichen der höchsten Bewusstseinsebene und man noch arg an sich arbeiten muss. Das sagt mir auch der Spiegel bei ungünstiger Beleuchtung regelmäßig.

Ich bin der Meinung, es ist eine Form von Achtsamkeit, wenn ich um meine eigene Verletzlichkeit weiß, wenn ich mir zugestehe, dass ich einen gewissen Schutz nach außen brauche und mich wichtig genug nehme um selbst zu entscheiden, bei welchen Menschen meine Seele und mein Ich mit all seinen Macken gut aufgehoben ist. Auch wenn ich mich vielleicht der Erfahrung beraube, in der möglicherweise entstehenden Gruppendynamik den spirituellen Olymp zu erklimmen – das Risiko gehe ich ein!

 

 

2 Replies to “Die ungeschminkte Wahrheit”

  1. Liebe Frau Reichert,
    Ihre Texte berühren mich, so dass ich Ihnen schreiben muss. Dieser Text ist unglaublich stark an Aussagekraft. Ich denke und fühle genauso, könnte jedoch dies nie so galant und charmant zu Papier bringen, das ist eine Kunst.

    „Auch wenn ich mich vielleicht der Erfahrung beraube, in der möglicherweise entstehenden Gruppendynamik den spirituellen Olymp zu erklimmen – das Risiko gehe ich ein!“

    Selten habe ich einen so raffinierten Abschlusssatz gelesen, der seine Aussagekraft durch eine geschickte Richtungslenkung überraschend eine Wendung gibt.

    Ein Beispiel für folgende Kernaussage: „Wenn Du brennst für das was Du tust, kann Dich niemand mehr aufhalten. Der Erfolg wird sich einstellen.“

    Ihre Stefanie Emmerich

    • Liebe Frau Emmerich,

      haben Sie vielen Dank für diese wunderbaren Worte. Wenn ich mit meinen Texten Menschen so erreiche und berühre, dann ist das für mich der schönste Erfolg.

      Ganz herzliche Grüße,

      Susanne Reichert

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